Casinos, Politik und der Fremdenverkehr
Freitag, der 10. Mai 1985, um 18.02 Uhr, im Obergeschoss des Hauses Bahnhofstraße 74 in Garmisch-Partenkirchen: Der katholische Pfarrer Franz Sand und sein evangelischer Kollege Walter Haas segnen auf Wunsch des Bürgermeisters einen alpenländischen Neubau, der 18 Millionen Mark gekostet hat. Dann sprechen die beiden Geistlichen zwischen neun Roulette- und zwei Black Jack-Tischen ein Bittgebet. Das »Vater unser«.
Die Croupiers, die schon an ihren Arbeitsplätzen sitzen und auf den ersten Wurf der weißen Elfenbeinkugel warten, falten die Hände und stimmen ein: »Unser tägliches Brot gib uns heute«.
700 irritierte Festgäste murmeln, Cocktail-Gläser in der Hand: » … und vergib uns unsere Schuld«. Die waben- und zeltartige Decke strahlt in orange-rotgoldenem Licht. Die leitenden Beamten der Staatlichen Lotterieverwaltung, zu der Bayerns vier Spielbanken gehören, blicken mit verklärten Gesichtern zu ihr empor: » … und auch wir vergeben unseren Schuldigern «.
Elegant gekleidete Spieler erflehen göttlichen Beistand: »Führe uns nicht in Versuchung … «
Casino klingt zwar sehr weltgewandt, bedeutet aber nichts anderes als Häuschen. »Warum sollte nicht auch einer staatlichen Spielbank, ihrem Personal und ihren Gästen der Segen unseres Herrn mit auf den Weg gegeben werden?« fragte Bayerns Finanzminister Max Streibl (Jahrgang 1932).
Jedenfalls ist Garmisch-Partenkirchen auf der Welt das erste Casino, in dem jetzt unter dem Beistand der zwei christlichen Glaubensgemeinschaften die unberechenbare Kugel rollt, Chips klappern und Karten blitzen.
Das Glücksspiel spaltet die Nation
Max Streibl hatte vor dem Gala-Büffett aber noch mehr zu sagen: »Die Zeiten, in denen Casinos Domäne von Adeligen, reichen Müßiggängern und Couponschneidern waren, sind Vergangenheit. Das Bürgertum hat die Spielbanken erobert; sie sind touristische Attraktionen geworden, die den Gästen Abwechslung, Entspannung und Unterhaltung in angenehmer Atmosphäre bieten«.
Der CSU-Politiker und Jurist hat damit sehr treffend das veränderte Casino-Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit charakterisiert: Den Wandel von Spielhöllen zu Unterhaltungsstätten für jedermann, von der selbstzerstörerischen Leidenschaft privilegierter Gesellschaftsschichten zum Massenvergnügen. Was einst als Hasard und Zocken gewertet wurde, genießt heute als »wichtiger Beitrag für die Förderung des Fremdenverkehrs« (Streibl) Ansehen. Auch bei Priestern.
Vor 30 Jahren dachten deutsche Politiker noch völlig anders. Damals sah Streibls katholische CSU Roulette als unmoralisch an. Den Bundestag bewegten erbitterte Debatten über die »Eiterbeulen der Gesellschaft« (Protokoll vom 14. Februar 1952) und »Höllen von sittlichem Verderb«. Schon im Januar 1952 brachte der CDU-Bundestagsabgeordnete Paul Bausch aus dem Wahlkreis Böblingen (bei Stuttgart) einen Gesetzentwurf ein, Spielbanken in der Bundesrepublik generell zu verbieten. Er wurde dabei von einem großen Teil der CDU-Fraktion unterstützt. Auch die Fuldaer Bischofskonferenz äußerte sittliche Bedenken gegen die »Rien ne va plus« Branche. »Der Freiheit eine Gasse! In Deutschland kann sich jeder ruinieren, der Lust dazu hat, wenn der Staat daran verdient. Denn Geld stinkt nicht«, wetterte am 5. Mai 1955 die heute als liberal geltende Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit«.
Schließen, stoppen, zulassen? Die Casinos warfen Gutachten in die Verbots-Diskussion: »Ordentliche Menschen in geordneten Verhältnissen wurden aus heiterem Himmel niemals durch das Spielen in Spielbanken zerrüttet«. Ihre Munition im Kampf ums Verdienen: Der Artikel 1 des Grundgesetzes, das unantastbare Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Die Auseinandersetzungen verlagerten sich dann immer mehr nach Bayern, wo die Uhren schon damals anders gingen. Der Freistaat sank tief in den »Spielbankenmorast«, vergab 1955 Konzessionen für die Casinos Bad Kissingen, Bad Reichenhall und GarmischPartenkirchen.
Spielbanken in Bayern hatten es nicht einfach
Zum Opening im Olympia-Ort und zwei Jahre später in Bad Wiessee warf Filmstar Marianne Koch, heute Ärztin und »Was bin ich?«-Raterin bei Robert Lembke, die erste und so verhängnisvolle
weiße Kugel. Deshalb verhängnisvoll, weil Bayerns Bund mit dem Spielteufel jahrelang das politische Klima anheizte. Das »Spandauer Volksblatt« in Berlin berichtete am 4. April 1958: »Der Bundestag in Bonn lehnte die Strafverfolgung seines Vizepräsidenten Dr. Richard Jaeger ab.
Der Abgeordnete hatte in einer Versammlung der Jungen Union die schwerwiegende Behauptung aufgestellt, die bayerische Regierung habe “einen Staatsminister zur Errichtung von Spielbanken und zur Förderung der Korruption” eingesetzt.
Dr. Jaeger spielte damit auf die Vorgänge um die Zulassung von Spielbanken in Bayern an, in deren Verlauf es vorkam, dass dem damaligen bayerischen Innenminister Dr. August Geislhöringer auf der Toilette des Weichandhofes in Obermenzing ein Sparkassenbuch mit einem Guthaben von 10 000 Mark in die Tasche gesteckt wurde«.
Bevor er als »Kopf-ab-Jaeger« ein Begriff wurde, versuchte der CSU-Mann Dr. Jaeger mit geradezu missionarischer Beflissenheit das Roulette-Rad zu stoppen. »Was man auch immer zugunsten von Spielbanken sagen mag: In unser bodenständiges Bayernland passen diese Einrichtungen nicht.
Sie stehen im Widerspruch zur Lebensführung und Lebensauffassung des bayerischen Volkes«, ereiferte sich der erdverwachsene Volksvertreter, von 1953 bis 1965 Vizepräsident des Bundestages und dann knapp 14 Monate Bundesjustizminister. Er besann sich später einer anderen bodenständigen Lebensauffassung: Dr. Jaeger forderte die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland … »Es ist noch nicht lange her, daß man sich auch in unserem
Land heftig über die Berechtigung staatlicher Spielbanken gestritten hat und die weiße Kugel ein viel umkämpfter politischer Spielball war.
Glücksspiel wird zum Breitensport
Heute sehen wir diese Fragen nüchterner, realistischer. Wenn der Staat das Glücksspiel verbietet, wird er – das hat uns die Geschichte gelehrt – das Glücksspiel nicht verhindern, sondern nur die Spieler in die Illegalität verdrängen. Mit all den Problemen, die das mit sich bringt, erklärte Finanzminister Max Streibl am 10. Mai 1985 in Garmisch-Partenkirchen. Von acht Casinos im Jahre 1955 stieg die Zahl westdeutscher Glücks-Tempel auf 28. »Spielbanken haben in der Bundesrepublik in den letzten Jahren einen Boom wie nie zuvor. Ihre Einrichtung wird, laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts, von 72 Prozent der Befragten befürwortet und nur von 14 Prozent rundweg abgelehnt. Der einst exklusive und teure Zeitvertreib der Gentlemen und Ganoven hat sich sozusagen zum Breitensport gewandelt«, vermerkte die Zeitung »Bild am Sonntag« in einer Serie über Glücksspiele in Deutschland.
Prominente werben für das Glücksspielgeschäft
Das jüngste Geschäft mit dem wispernden Rad, mit Baccara, Automaten und Black Jack (die amerikanische Variante des Kartenspiels » 17 und 4 «) wurde am 28. Juni 1985 in Hohensyburg bei Dortmund aufgenommen. Der blitzende Glücks-Tempel über der Ruhr sieht aus wie eine riesige Raumstation, ermöglicht durch bodentiefe Glaswände einen weiten Panoramablick.
Der Gigant aus Glas, Aluminium und Sandstein kostete die Kleinigkeit von 72 Millionen Mark. »Ich habe gerade den Ratsbeschluss von 1800 aufgehoben. Der besagt nämlich, daß jeder Glücksspieler unserer Stadt mit 50 Reichstalern Strafe oder mit körperlicher Züchtigung rechnen muss«, verkündete Dortmunds Oberbürgermeister Günter Samtlebe (SPD). Er darf für seinen Stadtsäckel jährlich etwa acht Millionen Mark erwarten. »Zum Glück nie zu weit«, propagiert Lothar Lammers, der Chef der Westdeutschen Spielbanken-Gesellschaft, die eckig-überdimensionale Stahlkonstruktion.
Deren Schöpfer Professor Harald Deilmann: »Eines der wenigen zeitgenössischen Architekturbeispiele dieser Spezies in Deutschland«.
Kunstsammler Lammers ließ zum Auftakt vor 1200 Gästen, darunter die Hamburger Ulknudel Helga Feddersen und »Lotto-Fee« Karin Tietze-Ludwig, für 60000 Mark den US-Entertainer Sammy Davis jr. in Hohensyburg auftreten. Das Münchner Ex-»Schätzchen« Uschi Glas besorgte mit der »goldenen Kugel« den ersten Coup. Ebenso in Mainz: Roulette als Volkssport. Auch der 29. deutsche Casino-Ort will dem sogenannten »kleinen Mann« die Schwellenangst vor dem vermeintlichen Glück nehmen. In der Hoffnung auf hohe Steuererträge für Stadt und Land.
Casinos und Glücksspiel als Devisenbringer
Die rechtliche Grundlage für die heutigen bundesdeutschen Casinos wurzelt in der nationalsozialistischen Ära. Sie basiert auf dem Gesetz vom 14. Juli 1933: »Der Reichsminister des Innern kann in Kur- und Badeorten, die entweder in den Jahren 1924 bis 1930 eine durchschnittliche Besucherzahl von jährlich mindestens 70 000 Besuchern, darunter 15 von Hundert Ausländer, ausgewiesen haben, oder in der Nähe einer ausländischen Spielbank liegen, öffentliche Spielbanken zulassen«. Die Rechte von Hitlers Reichsinnenminister sind nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Innenminister der Länder übergegangen. »finanzpolitische Überlegungen und vor allem das “Abzocken” ausländischer Touristen standen Pate bei diesen Gesetzen«, meint das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«.
Dieser Gedanke, Ausländern die Devisen abzuknüpfen, ist auch heute noch vorhanden. So enthält etwa die Spielordnung von Bad Homburg die Bestimmung: »Ausländischen Jugendlichen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, kann der Eintritt in Begleitung eines Erziehungsberechtigten gestattet werden«. Deutschen Staatsbürgern unter 21 hingegen verwehrt die »Mutter von Monte Carlo« ihre selbstangepriesene Champagnerluft und Tradition.
Beitreiber und Staat kassieren ab
Die Casino-Wölfe expandieren im Schafspelz sozialer Akzeptanz. Die Hochkonjunktur zwischen Sein und Schein verharmlost moralische Fragen. »Spitzenverdiener ist die öffentliche Hand, der von jeder eingesetzten Mark mindestens 80 Pfennig zufließen. In kaum einem anderen Bereich wird die doppelte Moral des Staates so deutlich: Den mahnenden Worten in der Öffentlichkeit,
die Spielleidenschaft zu mäßigen, folgt Abend für Abend der Kassensturz in den Casinos. Auch für die Betreiber der Spielbanken, die über die “Hemmungslosigkeit” des Staates beim Abkassieren klagen, ist die Konzession ein lukratives Geschäft. Trotz der Abgabenlast bleibt allein in Niedersachsen den Gesellschaftern ein Reingewinn von schätzungsweise 15 Millionen Mark«, kommentiert die Tageszeitung »Die Welt«.